4.1.6. Entropie

Ein sperriger Begriff, schwierig zu verstehen und noch schwieriger zu erklären. Eine Herausforderung also, für mich als Erklärenden und für Sie als Lernende. Aber es kann gelingen.

4.1.6.1. Erste Annäherung mit einem simplen Beispiel

Entropie, so sagt man, hat etwas mit Unordnung zu tun. Denken Sie jetzt an einen unaufgeräumten Schreibtisch oder einen Haufen Socken, die kreuz und quer herum liegen ? Wenn ja, liegen Sie nicht falsch. Sicher ahnen Sie schon, dass es in Physik und Chemie weniger um Socken als um Atome und Moleküle gehen wird, aber genauso sicher besitzen die Gegenstände der beiden Beispiele eine höhere Entropie als derselbe Schreibtisch mit Akten, die nach Datum sortiert sind, oder dieselben Socken, nach Paaren ordentlich zusammengelegt und gestapelt.

4.1.6.2. Zweite Annäherung mit einem Modell

Granulatkörner mischen sich. Granulatkörner mischen sich. Granulatkörner mischen sich. Granulatkörner mischen sich. Granulatkörner mischen sich.

Bild 1 : Die Entropie steigt.

In eine Glasschale habe ich links grünes, rechts weißes Dekogranulat gegeben. In Bild 1a (ganz oben) sehen Sie, dass die beiden Chargen fast vollständig getrennt nebeneinander liegen. Danach habe ich umgerührt. Es ist passiert, was zu erwarten war – die beiden Granulatsorten haben sich umso mehr vermischt, je mehr ich gerührt habe. Die Bilder 1b bis 1e (darunter) zeigen den Zustand nach einigem bzw. längerem Rühren.

◊ Zu Beginn kann man den Zustand des Systems geordnet nennen.

◊ Im Lauf des Experiments wird der Zustand des Systems immer weniger geordnet, man kann auch sagen, immer ungeordneter.

◊ Auch nach langem Rühren ist das System nicht „perfekt ungeordnet”. Auch im untersten Bild sehen Sie immer noch kleine Bereiche, in denen nur grünes Granulat ist, und andere, die ganz mit weißem Granulat gefüllt sind.

◊ Die Erfahrung sagt, dass das System (egal wie lange man rührt) auf diese Weise nie mehr in den geordneten Zustand vom Anfang zurückkehren wird.

◊ Wenn man (in den Worten der Alltagssprache) Arbeit, Energie, Kraft und Zeit investiert, kann man den Ausgangszustand wieder herstellen. Zum Beispiel kann man mit einer Pinzette die grünen von den hellen Krümeln trennen.

In der Zwischenüberschrift habe ich von einem Modell geschrieben. Von welchem Teil der Wirklichkeit habe ich bei dem kleinen Experiment ein Modell gebildet ? Es sind Systeme, die aus sehr vielen kleinsten Teilchen bestehen. Am ähnlichsten ist das Modell den Flüssigkeiten und Gasen, es gilt aber auch für Feststoffe (→ Fußnote 1). Das Modell beschreibt das Verhalten solcher Systeme beim Mischen, aber auch (und das ist das Wichtige), wenn man sie einfach sich selbst überlässt. Ein System wird immer von einem geordneten in einer weniger geordneten Zustand übergehen. Es wird ohne äußere Einwirkung nie in einen stärker geordneten Zustand übergehen.

Fußnote 1 : Bei Feststoffen kann der Übergang in einen ungeordneteren Zustand sehr lange dauern. Millionen von Jahren ist eine passende Zeitskala.

Den vorigen Absatz habe ich einer anschaulichen Sprache formuliert. Im folgenden will ich mich der perfekten Exaktheit einen Schritt nähern (das reicht, nicht mehr) und endlich den Begriff „Entropie” einführen.

◊ Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung (die fehlende Geordnetheit) eines Systems. Je ungeordneter es ist, umso größer ist seine Entropie. Die Entropie hat das Formelzeichen S und die Einheit J/K (Joule pro Kelvin).

◊ In einem abgeschlossenen System ist bei spontan ablaufenden Vorgängen die Änderung der Entropie immer größer als Null, sie gehen also immer in einen ungeordneteren Zustand über. Diese Aussage nennt man den 2. Hauptsatz der Thermodynamik.

◊ In einem geschlossenen oder gar offenen System kann die Änderung der Entropie auch kleiner als Null sein, das heißt die Entropie kann dort abnehmen, das System kann in einen geordneteren Zustand übergehen. Wie geht das ? Diese Systeme stehen im Austausch mit ihrer Umgebung. Betrachtet man also das System zusammen mit seiner Umgebung, kann das System Entropie an seine Umgebung abgeben. Das System verliert Entropie und wird geordneter, die Umgebung gewinnt diese Entropie und wird ungeordneter. Beim Sortieren des Granulats mit der Pinzette hat das System der Granulatkörner Entropie (Unordnung) verloren, der sortierende Mensch dagegen hat aufgrund seiner Stoffwechselvorgänge Entropie gewonnen.

 

4.1.6.3. Finale Annäherung mit Wahrscheinlichkeiten

Das im vorigen Abschnitt gezeichnete Bild ist beschreibend. Es hat Ihnen vielleicht eine anschauliche Vorstellung davon gegeben, was Entropie ist und wie sie immer größer wird. Aber die Warum–Frage habe ich ausgeklammert. Das werde ich jetzt nachholen, und am Ende dieses Abschnitts werden Sie, so denke ich, wissen, warum es unausweichlich ist, dass die Entropie eines abgeschlossenen Systems immer weiter zunimmt.

Warnung !

Dieser Abschnitt ist nicht nur der anspruchsvollste des Kapitels, er ist auch eintönig. Es werden endlose Reihen von Möglichkeiten hingeschrieben, das reine Erbsenzählen. Müssen Sie sich das antun ? Nein, natürlich nicht. Aber wenn Sie es doch tun, haben Sie die Entropie verstanden.

Real in der Chemie und im Alltag benutzte Systeme bestehen aus vielen Millionen von Teilchen. Solche kann ich hier nicht besprechen, sie wären zu umfangreich. Ich beschränke mich auf ein Modellsystem. Es besteht aus einem Kasten (Bild 2). Er ist durch eine Trennlinie in 2 gleichgroße Hälften geteilt, die linke und die rechte. Weiter sind 8 Kugeln vorhanden, 4 schwarze und 4 rote. Die schwarzen sind von 1 bis 4 nummeriert, die roten von 5 bis 8. Die Kugeln liegen im Kasten, immer 4 in der linken Hälfte und 4 in der rechten (genau : die Mittelpunkte der Kugeln liegen in der linken oder rechten Hälfte). Dass ein Kugelmittelpunkt genau auf der Trennlinie liegt, soll nicht vorkommen.

8 Kugeln in einem Kasten.

Bild 2 : Die Kugeln sind perfekt geordnet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher Zustand durch Zufall entsteht.

8 Kugeln in einem Kasten.

Bild 3 : Eine der 36 von 70 Möglich­keiten, in die linke Hälfte des Kastens 2 schwarze und 2 rote Kugeln zu legen. Da die Kugeln (Atome) in der Realität nicht numeriert sind, hat das System in diesem Kasten eine hohe Entropie.

Wieviele Möglichkeiten gibt es, die Kugeln auf die Hälften zu verteilen ? Ich werde diese Frage durch systematisches Probieren beantworten. Das heißt, ich werde alle Möglichkeiten einzeln hinschreiben. Dazu reicht es, wenn ich für jede Möglichkeit die Kugeln hinschreibe, die in der linken Hälfte sind, denn dann wissen Sie auch, welche rechts sind, nämlich der Rest. Und ich werde eine Notation (Schreibweise) einführen, die das Ganze übersichtlich macht. Eine Angabe wie zum Beispiel 1378 heißt, links sind die schwarzen Kugeln mit den Nummern 1 und 3 und die roten Kugeln 7 und 8. Ungesagt, weil klar : Rechts sind 2 und 4 (schwarz) und 5 und 6 (rot).

So, und jetzt ran an die Möglichkeiten.

◊ Vier schwarze Kugeln links : 1234. Es gibt nur eine Möglichkeit. Bild 2 zeigt sie.

◊ Drei schwarze Kugeln links :
1235, 1245, 1345, 2345 –
1236, 1246, 1346, 2346 –
1237, 1247, 1347, 2347 –
1238, 1248, 1348, 2348.
Es sind 16 Möglichkeiten.

◊ Zwei schwarze Kugeln links :
1256, 1356, 1456, 2356, 2456, 3456 –
1257, 1357, 1457, 2357, 2457, 3457 –
1258, 1358, 1458, 2358, 2458, 3458 –
1267, 1367, 1467, 2367, 2467, 3467 –
1268, 1368, 1468, 2368, 2468, 3468 –
1278, 1378, 1478, 2378, 2478, 3478.
Es sind 36 Möglichkeiten. Eine von ihnen ist in Bild 3 zu sehen.

◊ Eine schwarze Kugel links :
1567, 2567, 3567, 4567 –
1568, 2568, 3568, 4568 –
1578, 2578, 3578, 4578 –
1678, 2678, 3678, 4678.
Es sind 16 Möglichkeiten.

◊ Null schwarze Kugeln links : 5678. Es gibt nur eine Möglichkeit.

Insgesamt gibt es also 70 Möglichkeiten, und alle (das ist das Wichtigste) haben die gleiche Wahrscheinlichkeit. Es gibt gerade mal 2 Möglichkeiten für vollständige Ordnung im Kasten, nämlich die erste und die letzte. Die zugehörige Wahrscheinlichkeit ist 2/70 oder 2,9 %. Die Zahl der Möglichkeiten für gleichmäßige Verteilung der verschiedenfarbigen Kugeln auf die Hälften (also maximale Unordnung) ist 18 mal so groß, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist 36/70, also über 50 %. Wird der Kasten zufällig mit den 8 Kugeln gefüllt, ist viel eher zu erwarten, dass Sie gleichmäßige Verteilung (Unordnung) wie in Bild 3 sehen als dass Sie Ordnung (alle Kugeln einer Hälfte haben gleiche Farbe) wie in Bild 2 sehen.

4.1.6.4. Entropie in realen Systemen

2 Unterschiede zwischen dem Modellsystem und realen Systemen sind wesentlich.

Reale Systeme bestehen nicht nur aus einer Handvoll Kugeln, sondern aus einer riesigen Zahl von Atomen oder Molekülen. Was bedeutet das ? Es gibt immer nur einen Zustand der vollständigen Ordnung. In einem Reaktionsgefäß könnte er so aussehen, dass alle Moleküle des einen Stoffes links, alle des anderen Stoffes rechts im Gefäß sind. Die Zahl der ungeordneten und der wenig geordneten Zustände dagegen steigt extrem an. Die Wahrscheinlichkeit, das System in einem der unheimlich vielen kaum geordneten Zustände vorzufinden, beträgt nicht nur 50 % wie im Modellsystem, sondern praktisch 100 %.

Das Granulat habe ich von Hand gemischt. Bei den 8 Kugeln im Kasten habe ich nichts darüber gesagt, wie die verschiedenen Zustände erreicht werden. Vielleicht habe ich den Kasten geschüttelt wie die Lottotrommel im Fernsehen. Was passiert in Systemen mit sehr vielen Teilchen ?

Ich betrachte dazu ein Gas oder eine Flüssigkeit. Die kleinsten Teilchen besitzen (oberhalb des absoluten Nullpunkts) kinetische Energie (durch die Wärmeenergie des Systems). Ihre Bewegung erfolgt in zufällige Richtungen, und sie erfolgt von selbst, ohne dass ein Mensch nachhilft, eben aufgrund der Wärmeenergie des Systems. Dieser Vorgang heißt Diffusion. Nach einer gewissen Zeit nimmt das System einen der (sehr vielen möglichen) Zustände (das heißt Möglichkeiten der Anordnung der Teilchen) an. Die allermeisten dieser Zustände sind ungeordnet oder nur ganz wenig geordnet. Das System ist praktisch immer ungeordnet (man kann auch sagen, gut durchmischt). Dabei ist es egal, ob das System zu Beginn schon durchmischt war, oder ob es aus mehreren getrennten Komponenten bestand. Der Vorgang der Diffusion läuft von selbst ab, und er sorgt dafür, dass die Entropie steigt (wenn das System nicht durchmischt war) oder gleich bleibt (sonst).

xxxx Entropie ganz kurz
• Ein System möge aus sehr vielen kleinsten Teilchen bestehen.
• Sie bewegen sich zufällig.
• Ihre Anordnung ist bald vom Zufall bestimmt.
• Die meisten Anordnungen entsprechen einem ungeordneten Zustand.
• Das System ist ungeordnet.
• Seine Entropie ist gewachsen oder gleich geblieben.

4.1.6.5. Entropie in anderen Situationen

Nicht nur beim Durchmischen eines Gases oder einer Flüssigkeit steigt die Entropie. Sie ändert sich auch bei anderen Vorgängen. Dazu gehören die Änderungen des Aggregatzustands (Schmelzen, Erstarren, Verdampfen, Kondensieren, Sublimieren, Resublimieren), das Auflösen eines Stoffes und natürlich chemische Reaktionen.

Man bezeichnet als Schmelzentropie eines Systems (zum Beispiel eines Eisbrockens) die Differenz zwischen der Entropie nach dem Schmelzvorgang (also die der Flüssigkeit bei der Schmelztemperatur) und der Entropie vor dem Schmelzen (des Feststoffes bei der Schmelztemperatur). Für die anderen Vorgänge gilt Analoges. Sie heißen Verdampfungsentropie, Lösungsentropie, Reaktionsentropie oder wie auch immer.

Schmelzentropie :
_____ ΔSM = SSystem flüssig am Schmelzpunkt
___________ SSystem fest am Schmelzpunkt
Gleichung 4.12. : Schmelzentropie

Wie kann man entscheiden, ob die Entropieänderung bei einem solchen Vorgang positiv oder negativ ist ? Ganz einfach. Sie brauchen sich nur zu überlegen, ob die Unordnung des Systems steigt (ob Ordnung verloren geht). Schmelzen ist der Übergang von einer geordneten Kristallstruktur zum ungeordneten System einer Flüssigkeit, in der sich die Moleküle regellos umherbewegen. Die Schmelzentropie ist immer positiv. Entsprechend ist die Entropieänderung beim Erstarrungsvorgang negativ. STOP ! Entropie negativ ! Darf nicht sein ! Zum Glück gilt der 2. Hauptsatz der Thermodynamik (das ist der, der besagt, dass ΔS > 0 sein muss), nur bei abgeschlossenen Systemen. Und ein abgeschlossenes System kann keine Energie abgeben (so ist es ja definiert). Dort kann also kein flüssiger Stoff erstarren, denn bei diesem Vorgang würde ja Energie frei. Ein Erstarrungsvorgang in einem abgeschlossenen System kann also nicht stattfinden, und wir haben Glück gehabt. Reale Erstarrungsvorgänge finden aber immer wieder statt, und sie tun das in offenen oder geschlossenen Systemen. In solchen Systemen kann die Entropie ohne weiteres abnehmen, wie ich weiter oben erklärt habe.

Alles eben Gesagte gilt analog für die anderen eben genannten Vorgänge : chemische Reaktionen, Verdampfen und Kondensieren, Sublimieren und Resublimieren, Lösen und Auskristallisieren aus der Lösung.

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