11.2. Der flüssige Zustand

Die Lage ist unübersichtlich.

Die kleinsten Teilchen befinden sich nicht wie im festen Zustand unverrückbar an ihrem Platz, wo man sie in Ruhe untersuchen kann. Es sind auch nicht wie im Gas so wenige, dass man sie mit einem einfachen Modell mathematisch beschreiben kann.

In einer Flüssigkeit sind die kleinsten Teilchen nah beieinander und ständig in Bewegung. Die gegenseitigen Abstände und die relative Lage verändern sich ständig.

11.2.1. Nahordnung

So chaotisch, wie man jetzt denken könnte, ist die Struktur von Flüssigkeiten aber doch nicht.

Es tritt Nahordnung auf. Das heißt, rund um ein kleinstes Teilchen (z.B. ein Molekül) gruppieren sich weitere Teilchen. Diese Teilchen gruppieren sich aber nicht regelmäßig wie in einem Kristall.

Moleküle in einer Flüssigkeit

Bild 1 : Nahordnung in einer Flüssigkeit, schematisch

Sehen Sie sich einmal ein Teilchen an, zum Beispiel eines der mit einem schwarzen Stern markierten Teilchen in Bild 1. Rund um das Teilchen herum ordnen sich weitere Teilchen fast regelmäßig an. In der Nähe des markierten Teilchens sind die Teilchen annähernd geordnet, und die Abweichungen von einer regelmäßigen Anordnung sind klein.

Rund um diese Teilchen ordnen sich weitere Teilchen annähernd regelmäßig an. In Bezug auf das markierte Teilchen werden die Abweichungen von einer regelmäßigen Anordnung immer größer, und irgendwann (in einer Entfernung von 3 – 5 Molekülen) sind die Teilchen (in Bezug auf das markierte Teilchen) ganz zufällig angeordnet.

Eine solche, fast regelmäßige Ordnung ist aber nicht überall in der Flüssigkeit zu finden. Zum Beispiel ist die Situation rund um das gelb markierte Teilchen in Bild 1 ganz anders. Wieviele Nachbarn hat es eigentlich ? Man könnte sagen, es hat 2 Nachbarn, denn 2 andere Teilchen berühren es. Man kann aber auch sagen, es hätte 3, 4 oder gar 7 Nachbarn.

Außerdem bleiben die Teilchen in einer Flüssigkeit nicht an ihrem Platz. Sie bewegen sich relativ zueinander. Ihre Anordnung wechselt ständig, so dass die Nachbarn ständig wechseln und sich nie eine perfekte regelmäßige Ordnung herausbilden kann.

In der Nähe des markierten Teilchens herrscht fast perfekte Ordnung, weiter entfernt gar keine. Das ist die Nahordnung.

Mehr zur Beschreibung der Nahordnung erfahren Sie in Kapiteel xxx – demnächst.

Weshalb tritt Nahordnung auf ?

Der Grund für die Nahordnung sind Anziehungskräfte, die zwischen den kleinsten Teilchen wirken. Es sind dieselben Kräfte wie in Festkörpern. In Kapitel 5 (Bindungen) sind sie ausführlich beschrieben.

Nahordnung bei polaren Stoffen

Je polarer ein Molekül ist, umso mehr treten Wasserstoffbrückenbindungen und Dipol–Dipol–Wechselwirkungen in den Vordergrund, und es bilden sich Gruppen oder Cluster von Teilchen.

Die Teilchen dieser Gruppen bleiben längere Zeit zusammen, aber nicht dauernd. Teilchen können den Cluster verlassen, neue hinzukommen. Die Teilchen eines Clusters ändern ihre relative Position, wenn auch langsam. Die Cluster bewegen sich relativ zueinander.

11.2.2. Welche Beobachtungen kann man mit dem Modell der Nahordnung erklären ?

Flüssigkeiten haben keine feste Form

Die Teilchen bewegen sich relativ zueinander. Da ist es leicht, sich einer äußeren Form anzupassen.

Flüssigkeiten sind kaum kompressibel

Nur unter sehr hohem Druck findet eine geringe Volumenänderung statt. Das ist leicht zu verstehen, denn die Teilchen befinden sich schon dicht beieinander und können kaum noch näher zusammenrücken.

Flüssigkeiten sind isotrop

Flüssigkeiten sind isotrop, das heißt, ihre Eigenschaften sind richtungsunabhängig. Die Teilchen bewegen sich unabhängig voneinander in alle Richtungen. Damit sind auch alle Eigenschaften, die ja vom Zusammenwirken der kleinsten Teilchen abhängen, unabhängig von der Richtung.

Es gibt aber Ausnahmen. So sind zum Beispiel Flüssigkristalle zwar flüssig, aber nicht isotrop. Mehr über Flüssigkristalle erfahren Sie in Kapitel 8.2.

Flüssigkeiten haben eine geringere Dichte als Feststoffe

Um genau zu sein : Ein Stoff hat im flüssigen Zustand eine geringere Dichte als im festen. Die kleinsten Teilchen einer Flüssigkeit sind unregelmäßig angeordnet. Dazwischen ist immer etwas Platz. Im Feststoff sind die Teilchen regelmäßig, meist möglichst dicht angeordnet. In einem gegebenen Volumen sind also im festen Zustand mehr Teilchen als im flüssigen, und die Dichte ist größer.

kleinste Teilchen in Flüssigkeit und Feststoff

Bild 2 : Dichte im flüssigen (links) und im festen Zustand, schematisch.

In der schematischen Darstellung in Bild 2 können Sie erkennen, dass die 44 Kugeln links, die den flüssigen Zustand veranschaulichen, mehr Platz einnehmen als die 45 Kugeln rechts, die regelmäßig wie im festen Zustand angeordnet sind.

Wasser, fest und flüssig 2-Methyl-propanol-2, fest und flüssig

Bild 3 : links Wasser, fest und flüssig, rechts 2–Methyl–propanol–2, fest und flüssig

Manche Stoffe haben im flüssigen Zustand eine größere Dichte als im festen

In Bild 3 ist im rechten Becherglas 2–Methyl–propanol–2 (ein anderer Name dafür ist tert.–Butanol). Es hat im festen Zustand eine größere Dichte und schwimmt daher nicht. Das ist das Verhalten der meisten Stoffe – auch wenn man es nur selten sieht.

Die schwimmenden Eiswürfel im linken Becherglas in Bild 3 kennen alle. Wasser hat im flüssigen Zustand die größere Dichte. Dieses Verhalten zeigen nur sehr wenige Stoffe.

Auch die Ausnahmen lassen sich leicht erklären. Im festen Zustand sind die kleinsten Teilchen eben nicht platzsparend angeordnet. Über die Gründe demnächst mehr.

 

Sirup, ca. 30°C Sirup, ca. 6°C

Bild 4 : Im ersten Bild wird handelsüblicher Zucker­rübensirup auf ca. 30 °C erwärmt und auf einen Löffel genommen. In weniger als einer halben Minute läuft fast alles herunter.

Im zweiten Bild wird der Versuch mit dem gleichen Zuckerrübensirup bei Kühlschranktemperatur (6 °C) wiederholt. Nach einer Minute bildet der Zuckerrübensirup immer noch einen unförmigen Klumpen. Nichts ist herunter gelaufen.

Die Viskosität von Flüssigkeiten nimmt mit steigender Temperatur ab

Steigt die Temperatur, steigt auch die durchschnittliche Energie der kleinsten Teilchen. Immer mehr Teilchen können die gegenseitigen Anziehungskräfte in einem Cluster überwinden. Die Cluster werden im Durchschnitt kleiner. Damit wird auch der Widerstand der Verschiebung von Clustern gegeneinander kleiner. Das heißt, die innere Reibung (nichts anderes ist die Viskosität) wird geringer.

Obwohl Bild 4 keine normgerechte Viskositäts­messung zeigt, ist der Effekt deutlich zu erkennen.

11.2.3. Flüssig oder nicht – das ist hier die Frage

Ein Stoff ist entweder fest, flüssig oder gasförmig – und damit basta. Nein, so einfach ist es nicht. Es gibt eine Grauzone von Stoffen, die sich nicht so recht für einen Zustand entscheiden können. Sie haben sowohl Eigenschaften des festen als auch des flüssigen Zustands.

Mörser und Pistill aus Achat Polystyrol, glasartig

Bild 5 : Der Mörser und der Pistill bestehen aus Achat, einem amorphen Stoff.
Sowohl das Uhrglas als auch die darauf liegenden zylindrischen Formstücke
aus Polystyrol befinden sich im Glaszustand. Beide sind also amorph.

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