Modelle in der Chemie 2

3.7.5. Ein Molekül ist starr wie ein Holzklotz

Viele Menschen lernen in der Schule Zeichnungen von Molekülen kennen. Für jedes Atom wird sein Symbol an eine passende Stelle gezeichnet, und die Atomsymbole werden durch kurze, gerade Striche verbunden. Der Eindruck entsteht, dass Moleküle so aussehen. Abstand und gegenseitige Lage der Atome liegen in einem Molekül unverrückbar fest. Bild 2 zeigt eine solche Zeichnung (Strukturformel) des Propan–Moleküls.

Bäume sind nicht starr

Bild 1 : Diese Bäume sollen starr sein ? Etwa so starr wie ein Stück Holz ? Nein, das sind sie nicht, genauso wenig wie Moleküle.

Dann lernen dieselben Menschen ein Molekülmodell zum Anfassen kennen. Die Atome sind dort feste Plastikkugeln, und die Bindungen sind feste Plastikbolzen (oder kleine feste Stangen aus anderem Material, zum Beispiel Holz oder Metall), die die Kugeln zusammenhalten. Die Moleküle kann man (zumindest ohne Anwendung großer Kräfte) kaum verformen, nur ein wenig hin– und herwackeln. Bild 6 im Abschnitt über das hard–sphere–Modell des Atoms zeigt eine Gruppe solcher Atome und Bindungen.

Wen wundert es, dass die Vorstellung, Moleküle seien feste, starre Körper, deren Atome sich nicht gegeneinander verschieben oder sonstwie bewegen können, verbreitet ist ?

Wen wundert es, dass die meisten Menschen sich ein Molekül eher wie einen Holzklotz, nicht wie einen Baum vorstellen ?

Tatsächlich ist diese Vorstellung ein Modell.

rigid–body–Modell des Moleküls :
      Moleküle sind starr und unbeweglich.

Kurzbeschreibung

Moleküle werden als starre (nicht verformbare) Körper angesehen. Der englische Name des Modells ist rigid–body–Modell.

 

Der Unterschied zwischen Modell und Wirklichkeit

Thermische Schwingungen. – Alle Atome eines Moleküls führen unabhängig voneinander Schwingungen aus. Diese Schwingungen finden immer statt, sobald die Temperatur oberhalb des absoluten Nullpunkts liegt. Sie können durch Strahlung angeregt (das heißt verursacht) werden, aber auch mechanisch durch Zusammenstöße mit anderen Atomen (desselben oder eines anderen Moleküls).

Die Stärke (das heißt die Amplitude) der Schwingungen hängt von der Energie ab, die das Atom besitzt. Da Energie zwischen Atomen und Molekülen übertragen wird, hängt sie von der Energie des Systems ab. Im Abschnitt über die innere Energie (→ Kapitel 4.1.2.3.) habe ich einige Formen solcher Schwingungen aufgezählt. Wegen des Zusammenhangs dieser Schwingungen mit der Energie und der Temperatur nennt man sie thermische Schwingungen.

Würde man über einige Zeit (zum Beispiel ein paar Millisekunden) immer wieder die Position eines bestimmten Atoms messen, könnte man aus diesen Positionen eine mittlere Position bestimmen, und man könnte diese mittlere Position als die tatsächliche Position des Atoms ansehen. Man nennt sie Mittelpunktslage des Atoms.

Die Frequenz der thermischen Schwingungen liegt oft im Bereich von 1012 bis 1014 Schwingungen pro Sekunde. Die Amplitude hängt von mehreren Einflussgrößen ab. Art der beteiligten Atome, Bau des Moleküls oder Kristalls und natürlich die Temperatur gehören dazu. Sie beträgt bei Raumtemperatur einige Prozent der Bindungslänge.

Strukturformel des Propanmoleküls

Bild 2 : Strukturformel eines Propanmoleküls. Dreht sich der linke Teil um die rot markierte Bindung, entsteht eine andere Konformation.

Konformationen. – Teile eines Moleküls können sich koordiniert bewegen. Sehen Sie sich Bild 2 an. Eine Bindung habe ich rot markiert. Der Teil des Moleküls, der links von dieser Bindung ist (er besteht aus einem Kohlenstoffatom und 3 Wasserstoffatomen), kann sich als Ganzes um diese Bindung drehen. Tut er das, sagt man, es hat sich eine andere Konformation des Propanmoleküls gebildet.

Bei anderen, komplexeren Molekülen können sich natürlich auch andere, größere und komplexere Molekülteile drehen oder in einer anderen, komplexeren Art koordiniert bewegen. Ein Beispiel sind 2 Konformationen des Cyclohexan–Moleküls, die ich im Abschnitt über die innere Energie (→ Kapitel 4.1.2.3.) kurz beschrieben und dort in Bild 6 dargestellt habe. Ausführliche Informationen über Konformere und Konformationen finden Sie in (→ Kap. xx – demnächst).

Die Bildung von Konformationen wird durch Energiezufuhr bewirkt. Es gibt Konformationen, die einige Zeit stabil bleiben, während andere sich schnell wieder in die Konformation, aus der sie entstanden sind, zurück umwandeln.

Die Baumanalogie

Wie jede Analogie hat auch diese ihre Grenzen. Natürlich verhält sich ein Molekül nicht wie ein Baum, aber man kann doch einige Ähnlichkeiten finden, und diese Ähnlichkeiten können helfen, sich die Beweglichkeit der Moleküle besser vorzustellen.

Sehen Sie sich die Blätter eines Baums an. Sobald ein wenig Wind weht, bewegen sie sich. Sie bewegen sich hin und her, führen also Schwingungen aus. Ihre Bewegungen sind unabhängig voneinander, das heißt kein Blatt orientiert sich an einem anderen. Je stärker der Wind weht (und den Blättern kinetische Energie zuführt), umso stärker sind die Schwingungen.

Jedes Blatt bewegt sich um eine feste Position hin und her, denn es ist ja an einem Zweig angewachsen. Würde man über einige Zeit (zum Beispiel ein paar Minuten) immer wieder (zum Beispiel jede Sekunde) die Position dieses Blattes messen, könnte man aus diesen Positionen eine mittlere Position bestimmen, und man könnte diese mittlere Position als die tatsächliche Position des Blattes ansehen.

Die einzelnen Blätter führen also thermische Schwingungen um ihre Mittelpunktslage aus.

Weht stärkerer Wind, bewegen sich auch größere Äste, und mit Ihnen alles, was daran fest gewachsen ist, die kleinen Zweige und alle Blätter, und alles bewegt sich koordiniert. Kann man mit Recht sagen, es bilden sich Konformere des Baumes ? Vielleicht, es wäre aber eine ungewöhnliche Ausdrucksweise, und ich glaube, ich bin der erste, der sie benutzt. Gewiss aber sind diese koordinierten Bewegungen mit einigen koordinierten Bewegungen von Molekülteilen vergleichbar. Genauso sicher kann ein Baum nie die Vielfalt der Konformeren, die Moleküle bilden, nachbilden.

In der Unterschrift von Bild 1 habe ich mich über den Gedanken lustig gemacht, ein Baum könne starr wie Holz sein. Aber vielleicht haben Sie jetzt das Bild eines dicken Eichenstammes vor Augen, und da kann ich Ihnen kaum einreden, er wäre beweglich oder könnte seine Form verändern. Bäume können durchaus Teile haben, die starr sind, und auch Moleküle können Teile haben, die man ohne relativ große Kräfte nicht verformen kann und die man mit Recht starr nennen kann. Benzolringe gehören dazu.

Was kann man mit dem rigid–body–Modell erklären und was nicht ?

Thermische Schwingungen sind allgegenwärtig. Dadurch besitzen sie wenig Unterscheidungskraft. Situationen, in denen man sie für eine Erklärung braucht, sind selten. Moleküle, die im Verhältnis zu ihrer Größe viele Bindungen besitzen und annähernd kugelförmig sind, können erstaunlich viel Energie in ihren thermischen Schwingungen und in Rotationen des gesamten Moleküls aufnehmen. Dies ist die Ursache für den relativ hohen Schmelzpunkt solcher Moleküle.

Die Existenz von Konformeren kann Einfluss auf die Reaktionsfähigkeit von Stoffen haben. Oft ist es so, dass das stabilste Konformer reagiert, einfach deshalb, weil von ihm viel mehr vorhanden ist als von anderen. Dann betrachtet man den Stoff stellvertretend für dieses Konformer.

In anderen Fällen reagiert nur ein ganz bestimmtes Konformer. In der Chemie der Kohlenhydrate kommt das immer wieder vor, und besonders wichtig ist es bei Biomolekülen. Viele Arzneimittel wirken nur, weil sich ein bestimmtes Konformer an ein anderes Molekül anlagern und mit ihm in Wechselwikrung treten kann.

Kurz gesagt, ist das rigid–body–Modell eine sehr leistungsfähige Vereinfachung, die sehr vieles gut erklären kann.

3.7.6. Geometrie von Molekülen

Oft zeichnet man Strukturformeln von Molekülen in einer Art, wie ich es in Bild 3 für Essigsäure gezeigt habe. Dort ist das linke Kohlenstoffatom an 4 andere Atome gebunden. Diese 4 Atome habe ich kreuzförmig rund um das Kohlenstoffatom angeordnet. An das rechte Kohlenstoffatom sind 3 Atome gebunden, und ich habe sie in der Form eines Dreiecks um das Kohlenstoffatom gelegt.

Strukturformel von Essigsäure

Bild 3 : Strukturformel des Essigsäure­moleküls.

Sind die Atome zufällig so angeordnet ? Oder weil es sich leicht zeichnen lässt und schön aussieht ? Oder weil es übersichtlich ist ? Oder spiegelt die Anordnung die Realität wider ?

Kurz gesagt, die Formel in Bild 3 gibt die Realität für eines der Kohlenstoffatome ganz gut wieder, für das andere überhaupt nicht. Dass es so ist, könnte man Zufall nennen. Übersichtlichkeit und der Eindruck von Ordnung, den das Bild erweckt, spielen sicher auch eine Rolle. Der Hauptgrund aber stammt aus einer vergangenen Zeit, als Bücher erst mit Bleilettern gesetzt und dann gedruckt wurden. Da ging es nicht anders. Heute sind wir weiter.

Ein gutes Modell – kurz angetippt

Tatsächlich gibt es ein hervorragendes Modell, mit dem man sehr gut beschreiben kann, wie sich Atome um andere Atome herum geometrisch anordnen. Seine große Stärke zeigt es dort, wo kovalente Bindungen oder polare Atombindungen vorliegen, in Molekülen also. Bei Stoffen mit Ionen– oder metallischen Bindungen sollte man anders argumentieren.

Es ist das Valenzelektronenpaarabstoßungsmodell. Sein englischer Name ist valence shell electron pair repulsion model. Aus den Anfangsbuchstaben ergibt sich die Abkürzung VSEPR–Modell. Nur diese werde ich verwenden.

Das Modell ist weder umfangreich noch schwer zu verstehen, und man kann viel damit erklären. Deshalb habe ich ihm einen eigenen Abschnitt im Kapitel über Moleküle gewidmet. Erfahren Sie in Kapitel 6.1. mehr.

3.7.7. Das ideale Gas und der ideale Festkörper

Stoffe können in vielen Erscheinungsformen auftreten. Zwei davon kann man mit einfachen Modellen beschreiben.

Das Modell des idealen Gases beschreibt die im Alltag vorkommenden Gase bei Normaldruck mit einer Genauigkeit, die für die meisten Zwecke ausreicht.

Fluoritkristall

Bild 4 : Fluoritkristall, Breite ca. 2 cm

Das Modell des idealen Festkörpers beschreibt kristalline Feststoffe in einer Weise, die für viele Zwecke ausreicht.

Beide Modelle sind einfach und leistungsfähig. Und sie sind noch mehr, nämlich Voraussetzung für die meisten Erklärungen im Bereich der Gase und Kristalle. Ihre Vorteile, aber auch ihre Grenzen beschreibe ich im Kapitel über Aggregatzustände (Kapitel 11.1. für den festen und Kapitel 11.3. für den gasförmigen Zustand) und gehe dort auch gleich auf die Konsequenzen ihrer Anwendung ein.

Flüssigkeiten und nichtkristalline Feststoffe (Gläser und amorphe Stoffe) kann man nicht mit einfachen Modellen beschreiben. Der Grund ist nicht, dass diese Stoffe übermäßig komplex aufgebaut sind, sondern Vielfalt. Unterschiedliche Stoffe haben oft eine sehr unterschiedliche Struktur.

Den Fluoritkristall in Bild 4 kann man in vielen Aspekten mit dem Modell des idealen Festkörpers beschreiben. Ausgenommen davon ist die Farbe. Der Kristall besteht nicht aus reinem Calciumfluorid (dann wäre er farblos), sondern er enthält Yttrium–Ionen. Diese „Verunreinigung” passt nicht in das Modell des idealen Festkörpers, sorgt aber für die schöne rote Farbe.

3.7.8. Ad–hoc–Modelle

In diesem Abschnitt geht es um Modelle, die gezielt für eine spezielle Situation entworfen wurden und daher meist nur einen eng begrenzten Anwendungsbereich haben.

Solche Modelle, soweit sie in diesem Projekt benutzt werden, will ich hier kurz nennen.

3.7.9. Bemerkung über das, was zwischen den Atomen ist

Was für eine Frage, werden manche sagen. Was soll da schon sein, werden dieselben gleich antworten.

Aber die Frage „Was ist eigentlich zwischen den Atomen ?” ist weder lächerlich noch trivial. Sie zeigt, dass jemand nachgedacht hat.

Oft wird die Frage gestellt, wenn dichteste Kugelpackungen besprochen werden. Dort liest man Sätze der Art : „Die Atome nehmen 74 % des Raumes ein.” Ja, und was ist mit den anderen 26 % ? Was ist dort, zwischen den Atomen ?

Sind vielleicht wieder einmal unausgesprochene Annahmen die Ursache für einen scheinbaren Widerspruch ?

Kugelpackung

Bild 5 : dichteste Kugelpackung (Ausschnitt) – Atome werden mit Kugeln identifiziert.

Beginnt man, sich die Annahmen bewusst zu machen, die einer solchen Frage zugrunde liegen, wird man schnell fündig. Es geht um Atome, und in einer Kugelpackung stellt man sich Atome so vor, wie ich es in Bild 5 gezeichnet habe. Atome sind wie Plastikkugeln oder Tennisbälle, nur kleiner. Und zwischen den Tennisbällen ist natürlich Platz vorhanden, der mit irgend etwas ausgefüllt sein wird.

Aber wie in Kapitel 3.7.2. erklärt, ist ein Atom keine feste Kugel. Die Elektronen des Atoms halten sich in beliebiger Entfernung vom Kern auf. Natürlich sind sie oft nah beim Kern und nur selten weit davon entfernt. Die Lücken zwischen den Atomen sind relativ weit von den Kernen aller Nachbaratome entfernt. Deshalb halten sich dort nur relativ selten Elektronen auf. Von Zeit zu Zeit (die Zeitskala für solche Aufenthalte leigt im Pikosekundenbereich) sind dort aber doch Elektronen, und die Zwischenatomgebiete gehören Atomen.

Mit Absicht habe ich im vorigen Absatz eher vage formuliert, ein Gebiet gehört Atomen. Ich habe nicht geschrieben, es gehört einem bestimmten Atom, denn das wäre gelogen. Es werden mal Elektronen des einen Nachbaratoms dort sein, dann die eines anderen.

Das Gebiet ist also nicht leer. Zu sagen, dort wäre nichts, wäre falsch. Es ist zeitweise von Elektronen eingenommen. Da sie dort nur selten sind, sagt man, die Elektronendichte ist gering.

Geschickt wäre es, eine angemessene Formulierung zu benutzen. „Die Atome nehmen 74 % des Raumes ein.” ist nicht angemessen.

„Die Kugeln nehmen 74 % des Raumes ein.” geht in Ordnung. Dann hat man eine Aussage zur Geometrie gemacht.

„Stellt man sich Atome als Kugeln vor, nehmen sie 74 % des Raumes ein.” ist noch besser. Man erkennt gleich die Modellbildung.

Atome zwischen den Atomen. – Sind die Lücken zwischen den Atomen oder Ionen groß genug (und in den Kugelpackungen ist das oft der Fall, die Kugeln nehmen ja nur drei Viertel des Raumes ein), können dort auch andere, kleinere Atome oder Ionen ihren Platz finden. In Ionenkristallen (mehr dazu in Kapitel 7.4.) ist das meist der Fall, in Legierungen (mehr dazu in Kapitel 7.5. – demnächst) häufig.

Das ändert aber nichts an der Argumentation von eben. Sieht man all die großen und kleinen Atome und Ionen in einer Modellvorstellung als Kugeln an, ist zwischen ihnen immer noch leerer Raum, den man gefüllt sehen möchte. Sieht man sie als Gebiete ohne feste Grenze an, erstrecken sie sich über den gesamten, zur Verfügung stehenden Raum, und nichts bleibt leer oder ungenutzt.

Fazit. – In Feststoffen und Flüssigkeiten kann man die Situation (etwas vereinfacht) so beschreiben.

Ungenutzten Platz zwischen den Atomen gibt es nicht.
Atome nehmen den gesamten Raum ein.

Infobereich

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